Lesezeichen (Echokammer)

Über die Jahre gesammelte Lesezeichen im Browser-Verlauf werden thematisch sortiert und in Versform angeordnet. Irgendwann verweisen die Lesezeichen auf nichts mehr, weil ihre Links erloschen sind. Übrig bleiben die Worthüllen als Zeichen. In diesen Schlagwörtern offenbaren sich verschiedene gesellschaftliche Diskurse, die in der Suchhistorie immer wieder aufzutauchen scheinen. Was ehemals unter einem Link zu finden war, ist nicht mehr relevant. Die Suchanfragen, gefundenen Artikel, Videos, Bilder, Shopping-Empfehlungen und Rezepte dokumentieren den suchenden Blick einer Person im virtuellen Raum. Das zeitgenössische Tagebuch ist non-linear und ohne eigene Stimme. Es besteht aus vielen verschiedenen fremden Stimmen, die von einem Individuum gesammelt wurden. Die Poesie entsteht durch die Anordnung ursprünglich unzusammenhängender Gedankengänge und ihre Verdichtung in wenigen Zeilen. Zugleich ist dies der Versuch, im digitalen Selbst Kohärenz herzustellen – das Bedürfnis, eine abgeschlossene Narration zu besitzen. Eine digitale Autobiografie. Kohärenz entsteht durch Selektion von Informationen und durch ihre Transformation in eine lineare, narrative Form. Abgeschlossenheit, Fakten, Wahrheiten haben in unserer Welt keinen sicheren Bestand mehr. Wir aber suchen, auf dem Weg durch das Netz, nach Verbindungen und Gewissheiten. Die suggerierte Linearität der Linkhülsen erzeugt eine vermeintliche Narration und wird damit lyrisch.